Donnerstag, 20. September 2012

Demokratieverständnis - die echte Demokratie


echte Demokratie?; Bild-(C): Gerd Altmann/Carlsberg1988  / pixelio.de
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Die gesellschaftliche Macht, ausgeübt vom Volk, durch das Volk und für das Volk, getragen von natürlichen Lebensempfinden und Respekt vor der Arbeitsleistung, wäre unüberwindbar. Diese Macht setzt aber voraus, dass die arbeitenden Menschenmassen seelisch unabhängig und fähig werden, die Verantwortung für das gesellschaftliche Sein voll zu tragen und ihr Leben rational selbst zu bestimmen. Was sie daran hindert, ist die seelische Massenneurose, die sich in der Diktatur jeder Art ebenso wie im politischen Geschwätz materialisiert. Um die Massenneurose und den Irrationalismus im gesellschaftlichen Leben zu bewältigen, mit anderen Worten, um echte Mentalhygiene zu leisten, bedarf es eines sozialen Rahmens, der vor allem die materielle Not beseitigt und die freie Entwicklung der Lebenskräfte in jedem einzelnen sichert. Dieser soziale Rahmen kann nur die echte Demokratie sein.
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Die echte Demokratie ist kein Zustand einer "Freiheit", die einer Menschengruppe von gewählten oder aufgezwungenen Regierungsorganen geschenkt, gegönnt oder garantiert werden könnte. Die echte Demokratie ist ein schwieriger, langwieriger Prozeß, in dem die Menschenmasse, sozial und gesetzlich geschützt, alle Möglichkeiten hat (nicht etwa "bekommt"), sich in der Verwaltung des lebendigen, individuellen und gesellschaftlichen Lebens zu schulen und zu immer besseren Lebensnormen vorzudringen. Die echte Demokratie ist also keine abgeschlossene Entwicklung, die nun wie ein Greis ihre glorreiche, kämpferische Vergangenheit genießt, sondern sie ist ein Prozeß unausgesetzten Ringens mit den Problemen der unabbrechbaren Entwicklung neuer Gedanken, neuer Entdeckungen und neuer Lebensnormen. Die Entwicklung in die Zukunft ist nur dann unabbrechbar und ununterbrechbar, wenn das Alte und Greisenhafte, das seine Rolle auf einer früheren Stufe der demokratischen Entwicklung erfüllt hat, nun weise genug ist, dem Jungen und Neuen Platz zu machen und es nicht mit Berufung auf Würde oder formale Autorität zu ersticken.
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Die Tradition wird zum Täter der Demokratie, wenn sie der kommenden Jugend die Möglichkeit der Wahl nicht läßt, wenn sie zu diktieren versucht, was  unter neuen Bedingungen des Lebens als "gut" oder als "schlecht" anzusehen ist. Die Tradition vergißt leicht und gern, daß ihr die Fähigkeit abhanden kam zu beurteilen, was eben nicht Tradition ist.
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Die Linie des Zwanges ist die Linie des geringsten Widerstandes. Es ist leichter, Disziplin zu fordern und Autorität durchzusetzen, als Kinder zu selbsttätiger Arbeitsfreude und natürlichem sexuellem Verhalten zu erziehen. Es ist leichter, sich als von Gott gesandeter Führer und allwissend zu erklären und zu dekretieren, was Millionen denken und tun sollen, als im Kampf der Meinungen sich dem ringen zwischen Rationalem und Irrationalem auszusetzen. Es ist leichter, auf gesetzlicher Erfüllung von Achtung und Liebe zu bestehen, als Freundschaft durch menschliches Verhalten zu erringen. Es ist leichter, seine Unabhängigkeit für materielle Sicherheit zu verkaufen, als eine verantwortungsvolle, selbständige Existenz zu führen und Herr über sich selbst zu sein. es ist bequemer, Untergeordneten ihr Verhalten zu diktieren, als dieses Verhalten unter Wahrung der fremden Eigenheit zu lenken. Deshalb ist auch die Diktatur immer leichter als die echte Demokratie. Deshalb beneidet der bequeme demokratische Führer den Diktator und versucht, ihn unzulänglich nachzuahmen. Es ist leicht, den Gemeinplatz, und schwer, die Wahrheit zu vertreten.
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Auszug aus Wilhelm Reich "die Entdeckung des Orgons"